In einer Entscheidung vom 22. September 2022 (n° 436939, ECLI:FR:CECHR:2022:436939.20220922) hat das oberste französische Verwaltungsgericht, der Conseil d´Etat, einige Bestimmungen des Décret n° 2019-1333 du 11 décembre 2019 (Rechtsverordnung zur Reform des Zivilprozesses) annulliert (sh. hierzu den Beitrag https://www.martin-zwickel.de/franzoesisches-recht/kippt-der-conseil-detat-die-obligatorische-schlichtung-in-frankreich/).
Wiederherstellung der Pflicht zur obligatorischen Schlichtung im Zivilprozess
Der französische Verordnungsgeber hat am 11. Mai 2023 nun ein Décret (Décret n° 2023-357 du 11 mai 2023) erlassen, mit dem er die Verpflichtung, vor einer zivilprozessualen Klage einen Schlichtungsversuch zu unternehmen, wiederhergestellt hat.
Der neue, für ab dem 1. Oktober 2023 eingeleitete Verfahren gültige Art. 750-1 Code de procédure civile (CPC) ist bis auf die Ausbesserung der neuralgischen Stelle identisch mit der Fassung vor dem Urteil des Conseil d´Etat.
Moniert hatte der Conseil d’Etat, dass in der ursprünglichen Fassung eine Ausnahme von der Pflicht zu einem obligatorischen Schlichtungsversuch zu vage gefasst war. Ein Schlichtungsversuch war dann nicht erforderlich, wenn nicht ausreichend conciliateurs de justice verfügbar sind und eine erste Schlichtungssitzung daher nur nach offensichtlich überlanger Wartezeit durchgeführt werden könnte („indisponibilité de conciliateurs de justice entraînant l’organisation de la première réunion de conciliation dans un délai manifestement excessif au regard de la nature et des enjeux du litige”). Diese Stelle wird nun insofern präzisiert als die Ausnahme künftig nur dann greift, wenn die fehlende Verfügbarkeit von Schlichtern (conciliateurs de justice) dazu führt, dass die erste Schlichtungssitzung erst nach mindestens 3 Monaten seit dem Schlichtungsantrag durchgeführt werden kann (“indisponibilité de conciliateurs de justice entraînant l’organisation de la première réunion de conciliation dans un délai supérieur à trois mois à compter de la saisine d’un conciliateur”).
Neue Fassung des Art. 750-1 CPC (neu)
Art. 750-1 CPC (neu) lautet wie folgt:
Französische Fassung
Art. 750-1
En application de l’article 4 de la loi n° 2016-1547 du 18 novembre 2016, à peine d’irrecevabilité que le juge peut prononcer d’office, la demande en justice est précédée, au choix des parties, d’une tentative de conciliation menée par un conciliateur de justice, d’une tentative de médiation ou d’une tentative de procédure participative, lorsqu’elle tend au paiement d’une somme n’excédant pas 5 000 euros ou lorsqu’elle est relative à l’une des actions mentionnées aux articles R. 211-3-4 et R. 211-3-8 du code de l’organisation judiciaire ou à un trouble anormal de voisinage.
Les parties sont dispensées de l’obligation mentionnée au premier alinéa dans les cas suivants :
1° Si l’une des parties au moins sollicite l’homologation d’un accord ;
2° Lorsque l’exercice d’un recours préalable est imposé auprès de l’auteur de la décision ;
3° Si l’absence de recours à l’un des modes de résolution amiable mentionnés au premier alinéa est justifiée par un motif légitime tenant soit à l’urgence manifeste, soit aux circonstances de l’espèce rendant impossible une telle tentative ou nécessitant qu’une décision soit rendue non contradictoirement, soit à l’indisponibilité de conciliateurs de justice entraînant l’organisation de la première réunion de conciliation dans un délai supérieur à trois mois à compter de la saisine d’un conciliateur ; le demandeur justifie par tout moyen de la saisine et de ses suites ;
4° Si le juge ou l’autorité administrative doit, en application d’une disposition particulière, procéder à une tentative préalable de conciliation ;
5° Si le créancier a vainement engagé une procédure simplifiée de recouvrement des petites créances, conformément à l’article L. 125-1 du code des procédures civiles d’exécution.
Deutsche Übersetzung
Art. 750-1
(1) In Anwendung von Artikel 4 des Gesetzes Nr. 2016-1547 vom 18. November 2016 geht der Klage nach Wahl der Parteien ein Schlichtungsversuch durch einen Schlichter (conciliateur de justice), ein Mediationsversuch oder ein Versuch des partizipativen Verfahrens (procédure participative = vertragliches Konfliktlösungsverfahren nach Art. 2062 ff. Code civil) voraus, wenn sie auf die Zahlung eines Betrags von höchstens 5 000 Euro gerichtet ist oder wenn sie sich auf einen der in den Artikeln R. 211-3-4 und R. 211-3-8 des Gerichtsverfassungsgesetzes genannten Streitgegenstände oder auf eine Störung des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses bezieht.
Die Parteien sind in den folgenden Fällen von der in Absatz 1 genannten Verpflichtung befreit:
1° Wenn mindestens eine der Parteien die Vollstreckbarerklärung (homologation) eines Vergleichsvertrags beantragt;
2° Wenn ein Vorverfahren bei der Stelle, die die Entscheidung getroffen hat, vorgeschrieben ist;
3° Wenn das Absehen vom Versuch einer der in Absatz 1 genannten einvernehmlichen Streitbeilegungen durch ein berechtigtes Interesse gerechtfertigt ist, das sich entweder auf eine offensichtliche Dringlichkeit oder auf die Umstände des Falles bezieht, die einen solchen Versuch unmöglich machen oder eine Entscheidung ohne Anhörung der Parteien erfordert. Ein solches berechtiges Interesse liegt auch bei einer Nichtverfügbarkeit von Schlichtern (conciliateurs de justice) vor, die zur Folge hat, dass die erste Schlichtungssitzung mehr als drei Monate nach der Befassung eines Schlichters stattfinden muss; der Antragsteller hat den Schlichtungsantrag und seine Folgen glaubhaft zu machen;
4° Wenn das Gericht oder die Verwaltungsbehörde aufgrund einer besonderen Vorschrift einen vorherigen Schlichtungsversuch durchführen muss ;
5° Wenn der Gläubiger vergeblich ein vereinfachtes Verfahren zur Beitreibung von Kleinforderungen (rocédure simplifiée de recouvrement des petites créances, conformément à l‘article L. 125-1 du code des procédures civiles d’exécution) durchgeführt hat.
Kurze Bewertung der Neuregelung
Der französische Verordnungsgeber verschenkt die Chance einer Neukodifizierung des obligatorischen Schlichtungsversuchs. Folgende Probleme bestehen:
- Die Ausnahmetatbestände vom obligatorischen Schlichtungsversuch sind weiterhin sehr weit gehalten (motif légitime).
- Die bloße Nichtverfügbarkeit einer ausreichenden Zahl an Schlichtungspersonen führt noch immer zu einem möglichen Absehen vom Schlichtungsversuch.
- Der Verordnungsgeber führt den problematischen Begriff „saisine d´un conciliateur“ ein. Die conciliateurs de justice werden in Frankreich aber sehr niederschwellig, oft per bloßer Terminvereinbarung im Rathaus, angerufen. Es müsste also künftig der Antragszeitpunkt in geeigneter Form dokumentiert werden.
Weitergehende Überlegungen zur einvernehmlichen Streitbeilegung
Die schnelle Wiedereinführung der Pflicht zur obligatorischen Schlichtung ist nur ein erster Schritt in den sehr intensiven Bemühungen um die Verankerung einer “Kultur der einvernehmlichen Streitbeilegung” im französischen Zivilprozess. Der französische Justizminister hat schon im Januar 2023 eine “kulturelle Revolution” mit neuen Mechanismen der einvernehmlichen Streitbeilegung angekündigt, die nun nach und nach eingeführt werden sollen (sh. den Bericht des französischen Justizministeriums).
Gedacht ist an folgende Neuerungen:
- Procédure participative de mise en état: Eine gemeinsam von Gericht und Parteien prozessvertraglich gesteuerte Abschichtung von Streitstoff in einem Verfahren zur einvernehmlichen Beweisaufnahme.
- Audience de règlement amiable: Eine Verfahrenskonferenz zur einvernehmlichen Streitbeilegung, d. h. eine Art Mischung aus “Güteverhandlung” und “Case management conference”.
- Césure: Ein in die zwei Phasen “Entscheidung über einen Teil der Streitgegenstands” und “einvernehmliche Streitbeilegung des Rests des Streits” unterteiltes Verfahren nach dem Vorbild des deutschen Grund-, Teil und Zwischenurteils.
- Recodification: Alle Regelungen zur einvernehmlichen Streitbeilegung sollen, nach dem Vorbild einer Zivilkonfliktlösungsordnung, in einem neuen Kapitel des CPC Platz finden.