In einer gemeinsam mit Kollegen aus der Rechtswissenschaft und der Informatik (Prof. Dr. Axel Adrian, Prof. Dr. Stefan Evert und Prof. Dr. Michael Kohlhase) veranstalteten Online-Tagung „Digitalisierung von Zivilprozess und Rechtsdurchsetzung“ am 1. und 2. Juli 2021 wollen wir das Diskussionspapier um interdisziplinäre, internationale und technische Aspekte ergänzen.
Am 19. Mai 2021 findet um 17.00 Uhr bei uns an der FAU (online) auf Zoom) eine Veranstaltung „Jura-Studium in Corona-Zeiten – Wie kämpfe ich gegen den Studienstress?“ mit Dipl.-Psych. Alica Mohnert, Mag. iur., LL.M. (CUPL/中国政法大学) statt.
In der Veranstaltung geht es darum, wie man das Beste aus dem derzeitigen Online-Semester machen kann. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen!
Einen der zahlreichen Schwerpunkte der Neubearbeitung bildete das für Unfälle seit dem 22.07.2017 mögliche Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB und § 10 Abs. 3 StVG. Parallelvorschriften finden sich in den weiteren Sondergesetzen zur Gefährdungshaftung.
Es freut mich, in Abstimmung mit den Verlag Dr. Otto Schmidt, eine Leseprobe der Rz. 31.189 ff. verfügbar machen zu dürfen:
Das Diskussionspapier zur Digitalisierung des Zivilprozesses (wir berichteten auf dieser Seite) wurde nun, nach dem Zivilrichtertag am 2. Februar 2021, einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Zu einer Mitwirkung an den Diskussionen der Online-Tagung „Modernisierung des Zivilprozesses“ an der HU Berlin (Veranstalter: Prof. Dr. Giesela Rühl, LL.M. und Prof. Dr. Reinhard Singer) waren vor allem auch Rechtsanwaltschaft und Wissenschaft aufgerufen. Es waren vor allem die unterschiedlichen Blickwinkel, die die Teilnahme an der Tagung besonders fruchtbar gemacht haben. So wurden zu den Themen „Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens„, „Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens„, „Virtuelle Verhandlung und Protokollierung“ und „Elektronische Dateien als Beweismittel“ jeweils Punkte vorgetragen, die eine weitere Befassung verdienen. Diese (nicht abschließenden Denkanstöße und Fragen) sollen an dieser Stelle kurz skizziert werden.
Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens
Die im Diskussionspapier angedachte Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens wurde von allen Referentinnen und Referenten grundsätzlich positiv bewertet. Als Fazit aus den Diskussionen lässt sich wohl der Satz „Man sollte es auf jeden Fall versuchen!“ mitnehmen. Als noch nicht ausdiskutiert können aber folgende Punkte gelten:
Anwendungsbereich des Verfahrens zu eng? Es wurde die Frage aufgeworfen, ob das beschleunigte Online-Verfahren, das von der Arbeitsgruppe nur für Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen (mit Bindung der Unternehmer) vorgesehen ist, nicht für alle Streitgegenstände optional angeboten werden sollte. Schließlich vermeide eine solche Erweiterung des Anwendungsbereichs eine gegebenenfalls umständliche Prüfung desselben.
Stärkere Einbeziehung der einvernehmlichen Streitbeilegung erforderlich? Angesicht der Erfahrungen aus anderen Ländern (v.a. British Columbia/Kanada mit dem Civil Resolution Tribunal) wurde zudem gefordert, Schnittstellen des beschleunigten Online-Verfahrens zur einvernehmlichen Streitbeilegung schon in einem ersten Schritt mit zu denken und ggf. auch „teilautomatisierte Schlichtungsangebote mit einzubeziehen“.
Gestaltung des Verfahrens noch zu wenig bürgerorientiert? Die Arbeitsgruppe hatte in ihrem Diskussionspapier das Verfahren hauptsächlich für Massenstreitigkeiten konzipiert, die sich unter Zuhilfenahme digitaler Technik unkompliziert beilegen lassen. In den Diskussionen trat nun aber die Frage in den Mittelpunkt, ob das beschleunigte Online-Verfahren sich nicht auch als genereller Mechanismus einer bürgernahen Streitbeilegung eignet und dem Richter dafür ein weiterreichender Ermessensspielraum zur Verfahrensgestaltung einzuräumen ist als vom Diskussionspapier vorgesehen. Eine solche Ausrichtung des Verfahrens an Überlegungen der Bürgernähe kommt freilich nur dann in Betracht, wenn „Bürgernähe“ nicht nur als Schlagwort, sondern als ausreichend definierter Systembegriff dient und die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger vorab empirisch erfasst werden. Von Seiten der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ wurde bereits angekündigt, nach Wegen suchen zu wollen, um die Bürgerinnen und Bürger in den Diskussionsprozess mit einzubeziehen.
Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens
Ein heißes Eisen scheint in den Diskussionen um die Modernisierung des Zivilprozesses die Frage nach der Erforderlichkeit und Ausgestaltung einer Strukturierung des Parteivortrags zu werden. Die sehr praxisorientiert und auch auf Basis konkreter Beispiele für ein elektronisches Basisdokument geführten Diskussionen dazu haben gezeigt, dass eine Einführung von Anforderungen an die Gestaltung von Schriftsätzen alles andere als unumstritten ist. Offen sind vor allem noch folgende Fragen:
Strukturierungskriterium zu eng gewählt? Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ schlägt die Ordnung des Tatsachenvortrags nach dem Merkmal der „Chronologie“ vor. Dabei handelt es sich um eine rein zeitliche Ordnung des Tatsachenmaterials. Gewiss ist damit schon etwas gewonnen. Für die Ordnung von Rechtsausführungen (die von der Arbeitsgruppe auch nicht primär angestrebt ist) eignet sich das Kriterium der „zeitlichen Abfolge“ freilich nicht. Auch ist noch offen, wie die Ordnung im vorgeschlagenen Basisdokument erfolgen soll, wenn der zeitliche Ablauf belanglos, das Tatsachenmaterial zu einem zeitlich einheitlichen Vorgang aber umfangreich ist. Daher müsste das Kriterium der „Chronologie des Lebenssachverhalts“ unbedingt noch ausgeformt werden. Andere Kriterien wie die der „zentralen Behauptungen“ und der „gewählten Anspruchsnormen“ oder aber auch die „rein formale Ordnungsvorgabe als Aufgabe der Parteien“ (Verzicht auf ein Strukturierungskriterium) sollten ebenfalls Eingang in die Diskussionen finden.
Verfahren der Strukturierung mit dem elektronischen Basisdokument als Nachteil für den Beklagten? Vom Strukturierungskriterium ist das Vorgehen bei der Strukturierung (hier: Strukturierungsverfahren) zu unterscheiden. Die Arbeitsgruppe hat sich im Diskussionspapier für die Strukturierung in einem gemeinsamen Dokument, dem sog. Basisdokument, entschieden, an dem Kläger und Beklagter mitarbeiten. Freilich muss die Initiative zur Strukturierung entweder vom Gericht oder einer der Parteien ausgehen. Das Basisdokument wird vom Kläger begonnen, der dort seinen Schriftsatz eingibt. Im Chatbereich der Online-Tagung wurde nun intensiv darüber diskutiert, ob das nicht eine zu große Benachteiligung der ohnehin schon einer Klage ausgesetzten Beklagtenpartei darstelle. Vorgeschlagen wurde als Lösung dieses Problems eine erst nach Austausch von Klage und Klageerwiderung durch das Gericht vorzunehmende Strukturierung. Denkbar ist freilich auch, dem Beklagten zu ermöglichen, von der klägerischen Struktur abzuweichen. Wie dem auch sei: Vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Waffengleichheit der Parteien wird diese Frage der genauen Ausgestaltung eines gemeinsamen Verfahrensdokuments noch intensiv zu diskutieren sein!
Mehrwert gerade der digitalen Strukturierung von Schriftsätzen? Ebenfalls im Chatbereich wurde schließlich auch über den spezifischen Mehrwert einer digitalen Strukturierung von Schriftsätzen diskutiert. Sieht man diesen nicht bereits in der Verwendung eines digitalen Kollaborationstools wie des Basisdokuments (ähnliche Tools sind mit z. B. Methodigy und Normfall-Manager schon auf dem Markt) und der damit verbundenen Verfahrensumstellung (frühzeitiges Tätigwerden des Richters), müsste über Möglichkeiten nachgedacht werden, welchen Beitrag eine Strukturierung über die Erleichterung der richterlichen Tätigkeit hinaus im digitalen Zeitalter haben könnte. Denkbar sind in diesem Zusammenhang Tools zur Hilfe bei der Inhaltserschließung von Schriftsätzen (z. B. durch automatische Generierung von Zeitstrahlen, Verschlagwortung, Verlinkung mit juristischen Datenbanken usw.).
Virtuelle Verhandlung und Protokollierung
Als deutlich weniger umstritten wurden die Vorschläge der Arbeitsgruppe aufgenommen, die die Einführung einer rein virtuellen Verhandlung und die digitale Protokollierung betreffen. Insbesondere das von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Wortprotokoll wurde, besonders im Chat, vielfach befürwortet.
Kritische Fragen wurden aber in Bezug auf die rein virtuelle Verhandlung aufgeworfen. Sie lassen sich unter zwei Oberpunkten bündeln:
Geht der Vorschlag in Bezug auf die Herstellung der Gerichtsöffentlichkeit weit genug? Die Arbeitsgruppe will „die Videoverhandlung in einen vom Gericht bestimmten Raum live übertragen, an dem jedermann in Bild und Ton die Sitzung mitverfolgen kann“. Dazu wurde in den Diskussionen angemerkt, es wirke geradezu analog, wenn in der virtuellen Verhandlung weder die Parteien noch das Gericht am Gerichtsort präsent sein müssen, jedoch aber die interessierte Öffentlichkeit. Es wurde dafür plädiert, diesbezüglich auch digitale Lösungen zu bedenken.
Passt eine rein digitale Verhandlung (außerhalb des Gerichts) zum Zivilprozess? In eine andere Kerbe schlägt die vorgetragene Kritik, eine Verhandlung im digitalen Raum unterscheide sich maßgeblich von einer Verhandlung im Gerichtssaal. So sei es atmosphärisch etwas anderes, im Gerichtssaal oder per Videokonferenz zu verhandeln. „Psychologische Hemmschwellen“ seien wichtig für das „Selbstverständnis der Justiz“. Zudem reiche das für eine rein virtuelle Verhandlung erforderliche Einverständnis der Parteien nicht zur Vermeidung von „forum shopping“ etwa zu Gunsten eines besonders digitalaffinen Gerichts.
Elektronische Dateien als Beweismittel
Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hat zur Frage der elektronischen Dateien als Beweismittel keine Vorschläge de lege ferenda unterbreitet. Vielmehr soll hierfür die weitere technische Entwicklung abgewartet werden. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Tagung v. a. (nicht minder interessante) weiterführende technische Fragen aufgeworfen hat. Problematisch ist in Zusammenhang mit elektronischen Dateien (z. B. WhatsApp-Nachrichten) derzeit, dass diese derzeit vielfach nur als Screenshots vorlegt/in Augenschein genommen werden können. Die beiden folgenden, im Rahmen der Tagung diskutierten Fragen, betreffen nun eben diese technische Problematik:
Brauchen wir ein sog. Prozessmanagementportal zur Verwaltung/Sammlung elektronischer Dateien? Über ein derartiges Portal könnten elektronische Dateien im Original (!) gesammelt werden und v.a. bei Gericht in brauchbarer Form archiviert werden. Darüber hinaus könnte ein solches Portal alle Ansätze aus dem Diskussionspapier insofern bündeln als es die zentrale Prozessplattform im digitalen Zeitalter darstellen könnte. Basieren könnte eine solche Plattform ggf. auf der derzeit in Programmierung befindlichen Akteneinsichtsplattform für die E-Akte, die ggf. mit einer Upload-Funktion versehen werden könnte. Auf einer solchen Plattform könnten also nicht nur (elektronische) Beweismittel gesammelt werden. Sie könnte vielmehr auch den Zugriff auf das Basisdokument bieten, eine Plattform für die virtuelle Verhandlung darstellen, usw. Ob ein solch großer Wurf gelingen kann, steht freilich in den Sternen.
Ist ein Zugriff auf elektronische Dateien aus anderen Verfahren nötig/sinnvoll? Grundsätzlich wäre es technisch denkbar, das Prozessmanagement so zu gestalten, dass nach Beweismitteln gesucht werden kann. In einem Prozessmanagementportal müsste dafür nicht unbedingt ein Zugriff auf die Akte anderer Verfahren erfolgen, sondern nur auf einzelne Dateien, die als Beweismittel verwendet wurden. Ökonomisch wäre es freilich sinnvoll, wenn z. B. nicht in jedem parallelen Verfahren ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müsste, sondern ein Gutachten aus einem anderen Verfahren auf einfache Weise „beigezogen werden könnte“. Nicht gänzlich ausdiskutiert wurde in diesem Zusammenhang aber, wie sich eine derartige Möglichkeit in Einklang mit dem Beibringungsgrundsatz bringen ließe.
Fazit
Mit der Online-Konferenz „Modernisierung des Zivilprozesses“ am 26. Februar 2021 an der HU Berlin gingen die Diskussionen um das Papier der Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten in eine neue Runde. Es wurden nun auch die Wissenschaft und die Anwaltschaft in den Prozess einbezogen. Die vielen aufgeworfenen Fragen zeigen, dass dieses Unterfangen der Tagungsorganisatoren ein voller Erfolg war.
Der Einbeziehung weiterer Akteure der Streitbeilegung (Schiedsgerichtsbarkeit und Verbraucherschlichtungsstellen) widmet sich bereits in Kürze eine an der Universität Passau (Prof. Dr. Thomas Riehm) für den 19.03.2021 geplante Tagung.
Ertrag verspricht darüber hinaus, wie ebenfalls im Rahmen der Berliner Tagung anklang, eine Einbeziehung der eigentlich Betroffenen, der Bürgerinnen und Bürger, sowie ein stärkeres Einbringen rechtsvergleichender Erfahrungen zur Digitalisierung des Zivilprozesses aus anderen Ländern.
Die im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs tätige Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hat am 7. Januar 2021 ihr 126-seitiges Diskussionspapier vorgelegt.
Vorgestellt werden darin zahlreiche äußerst innovative Ansätze zur Nutzung (neuer) technischer Möglichkeiten für das zivilprozessuale Verfahren. Einige besonders innovative Vorschläge seien kurz herausgegriffen:
A. Bundesweit einheitliches Justizportal mit entsprechenden Kommunikationsmöglichkeiten
Ein Portal, wie es in anderen Ländern bereits existiert (z. B. in Frankreich mit www.justice.fr, in Österreich mit „ERV für alle“ oder seit November 2020 noch bürgernäher „Justiz-Online“ sowie in Dänemark mit Minretssag), soll
„den Bürgerinnen und Bürgern einen umfassenden Zugang zur Justiz eröffnen, indem es als sicherer Übermittlungsweg dient. Darüber hinaus soll es sämtliche digitalen Angebote der Justiz integrieren, wie insbesondere das Online-Mahnverfahren, das Beschleunigte Online-Verfahren, die „virtuellen Rechtsantragstellen“ und die Möglichkeit zur Teilnahme an einer „virtuellen Gerichtsverhandlung“. Durch Erläuterungen und intelligente Eingabehilfen sollen Rechtsuchende Unterstützung bei der Auswahl des geeigneten Rechtsbehelfs und der Fassung von Anträgen erhalten.“
Ein solches Portal mit Nutzung intelligenter Web 2.0-Technologie kann maßgeblich zu einem einfachen Zugang zu Gericht beitragen. Moderne Online-Verfahren, wie sie z. B. im kanadischen British-Columbia genutzt werden, bieten bereits einen derart niederschwelligen Zugang zu Gericht. Es liegt auf der Hand, dass gerade nicht anwaltlich vertretene Parteien von einem solchen Portal auch hierzulande stark profitieren könnten.
Beispiel 1: Thematisch sortierte Auswahlmaske der geplanten Schritte auf www.justice.fr (Frankreich)
Beispiel 2: Serviceangebote auf Justiz-Online (Österreich)
B. Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens
Eine größere Änderung der ZPO und des bisherigen Verfahrensablaufs würde der Vorschlag einer Strukturierung des Parteivortrags mit sich bringen. Diesbezüglich schließt sich die Arbeitsgruppe den in jüngerer Zeit erhobenen Stimmen in der Literatur an, die allesamt davon ausgehen, der Parteivortrag erfolge vielfach zu unstrukturiert und weise oft zu wenige Wechselbezüge auf („Parteien schreiben aneinander vorbei“).
Grundsätzlich sind für Schriftsätze folgende Strukturierungsmöglichkeiten denkbar:
Strukturierungsmethode
Methodisch kann die Strukturierung dabei einerseits durch Vorgaben für die Gestaltung der Freitextschriftsätze (z. B. „Pflicht“ zu einer Gliederung nach bestimmten Kriterien) erfolgen. Das große Problem hieran ist aber, dass derartige Freitexte nur schwer digital inhaltlich zu erschließen sind. Zu Recht entscheidet sich die Arbeitsgruppe daher für den Weg eines gemeinsamen Verfahrensdokuments, den sie, im Anschluss an Greger (NJW 2019, 3429, 3431) als sog. „Basisdokument“ bezeichnet.
In der Literatur wurden ähnliche Konzepte bereits unter den Bezeichnungen „Gerichtlicher Datenraum“ (Köbler/Weller, AnwBl Online 2018, 383) sowie „gemeinsames Verfahrensdokument“ (Köbler, DVBl. 2016, 1506; Zwickel, Die digitale Strukturierung und inhaltliche Erschließung zivilprozessualer Schriftsätze im Spannungsfeld zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht, in: Buschmann/Gläß/Gonska et al., Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht – 3. Tagung junger Prozessrechtswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen am 29./30.09.2017 in Leipzig, 2018, S. 179 ff.) gebraucht.
Nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe sollen die Parteien in diesem „Cloud-Dokument“ (idealerweise auf dem Justiz-Server) ihren Tatsachenvortrag (eine Pflicht zu Rechtsausführungen soll nicht eingeführt werden!) in einer Relationstabelle gegenüberstellen. Die Parteien arbeiten also an einem einzigen Dokument. Eine solche Strukturierung könnte z. B. wie folgt aussehen:
Beispiel für ein Basisdokument in Form einer sog. Relationstabelle
Strukturierungskriterium
Intensiv diskutiert wurde in der bisherigen Literatur zur Schriftsatzstrukturierung über das richtige Kriterium für die Strukturierung (sh. obige Literaturnachweise).
Als zentrales Kriterium für die Strukturierung wählt die Arbeitsgruppe dasjenige der Tatsachenbehauptungen:
„Ausgangspunkt des Basisdokuments ist der Lebenssachverhalt und nicht eine vom Kläger für einschlägig gehaltene Anspruchsgrundlage.“
Fazit: Mischung aus formaler und inhaltlicher Strukturierung
Versucht man, den Vorschlag der Arbeitsgruppe in die oben genannten Arten der Strukturierung einzuordnen, so stellt man fest, dass es sich beim Vorschlag des Basisdokuments um ein Hybrid aus formaler und inhaltlicher Strukturierung handelt. Das Basisdokument selbst wird sicher, im Stil einer Eingabemaske, bestimmte formale Vorgaben (z. B. für das Rubrum) machen. Darüber hinaus sollen die Parteien aber auch angehalten werden, ihren Vortrag nach dem inhaltlichen Kriterium der Behauptungen (Lebenssachverhalt) zu ordnen.
Insgesamt lassen sich die Schnittpunkte der von der Arbeitsgruppe vorgeschlagenen digitalen Strukturierung mit der jeweiligen richterlichen Tätigkeit wie folgt veranschaulichen:
Weitgehend der Zukunft vorbehalten und daher verständlicherweise von der Arbeitsgruppe zu großen Teilen ausgespart (sh. dazu aber die Ausführungen entsprechenden Möglichkeiten unter https://opus4.kobv.de/opus4-fau/frontdoor/index/index/docId/9846) ist freilich noch die Technik der digitalen Inhaltserschließung der Eingaben des Basisdokuments (von der automatischen Verlinkung von Treffern in juristischen Datenbanken bis hin zum digitalen Entscheidungsvorschlag). Genau an dieser Stelle, d.h. bei der Erleichterung der richterlichen Arbeit auf dem Weg zum Urteil liegt der wahre Mehrwert einer Strukturierung des Parteivortrags, der damit inhaltlich digital weiterverarbeitet werden kann:
C. Einführung eines Beschleunigten Online-Verfahrens
Mit dem Ausbau der Idee eines sog. „Beschleunigten Online-Verfahrens“ schlägt die Arbeitsgruppe ein völlig eigenständiges, von der Verfahrenseinleitung bis zum Verfahrensabschluss durchkonzipiertes Verfahren vor, das sich grundsätzlich vom erstinstanzlichen ZPO-Regelverfahren unterscheidet:
„Dabei handelt es sich um ein Verfahren mit intelligenten Eingabe- und Abfragesystemen , das in der Regel vollständig im Wege elektronischer Kommunikation geführt wird. Die Verfahren sollen bei bestimmten Gerichten konzentriert werden können, so dass es möglich ist, zentrale Online-Gerichte einzurichten.
Das Beschleunigte Online-Verfahren soll für Streitwerte bis 5.000 € eingeführt werden. Der Anwendungsbereich soll zunächst auf massenhaft auftretende Streitigkeiten zwischen klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchern und beklagten Unternehmen beschränkt werden, jedoch in Zukunft auf andere Verfahren erweitert werden können.
Die Teilnahme am Beschleunigten Online-Verfahren soll für Klägerinnen und Kläger freiwillig sein. Für Unternehmen auf der Beklagtenseite soll ein Nutzungszwang eingeführt werden. Dem Gericht ist es möglich, das Beschleunigte Online-Verfahren in ein Regelverfahren zu überführen, wenn ausnahmsweise online ausführbare Verfahrenshandlungen nicht ausreichen.“
Dieses neuartige Verfahren müsste in der ZPO vollständig durchgeregelt und auch in die Justizorganisation eingebettet werden.
Zwei Kernpunkte des Vorschlags sollen nachfolgend exemplarisch diskutiert werden.
Enger Anwendungsbereich
Der Anwendungsbereich des Beschleunigten Onlineverfahrens soll, nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe, zumindest vorerst relativ eng gehalten werden. Ausgangspunkt der Idee ist der deutliche Rückgang der Eingangszahlen bei Gerichten in Zivilsachen und die damit in Zusammenhang gebrachte Entwicklung privater Legal Tech-Dienstleistungen (Diskussionspapier, S. 76). Diesem Ausgangspunkt entsprechend soll der Zugang zum Beschleunigten Online-Verfahren durch drei Determinanten beschränkt werden:
Es soll nur für Verfahren mit Streitwerten bis 5.000 € in Frage kommen.
Das Beschleunigte Online-Verfahren kommt nur in Fällen zum Einsatz, die massenhaft auftretende Streitigkeiten zum Gegenstand haben und die sich für eine digitale Strukturierung in besonderem Maße eignen.
Es erfasst, nach den Vorstellungen der Arbeitsgruppe, nur Streitigkeiten zwischen klagenden Verbraucherinnen und Verbrauchern und beklagten Unternehmen.
Dieser sehr enge Anwendungsbereich überzeugt auf Anhieb nicht vollständig:
Statt der Idee , wieder mehr Rechtsstreitigkeiten, die momentan oft durch Legal Tech-Anbieter (z. B. www.flightright.de, www.myright.de, usw.) erledigt werden, zu den staatlichen Gerichten zurückzuholen, kann man auch einfach den Blickwinkel eines nicht anwaltlich vertretenen Bürgers einnehmen, der vor Gericht ziehen muss. Dieser bräuchte aber in allen Fällen, in denen das sog. rationale Desinteresse eine große Rolle spielt und v.a. nicht nur gegenüber Unternehmern (z. B. auch einfache kaufrechtliche Forderungen, einfache mietrechtliche Ansprüche, nachbarrechtliche Streitigkeiten, etc.) einen einfachen Zugang zu Gericht und v.a. auch ein schnelles, digitales Verfahren. Diese Streitgegenstände, die momentan (etwa weil der Bürger vor einem Verfahren zurückschreckt oder weil dies wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, usw.) nur selten(er) vor Gericht landen, müssten aber zunächst durch rechtstatsächliche Erhebungen (z. B. im BMJV-Forschungsvorhaben zum Rückgang gerichtlicher Verfahren) gründlich identifiziert werden.
Strukturformulare (auch für Freitext; anders das Diskussionspapier, S. 82) eignen sich, wie Beispiele aus dem benachbarten Ausland zeigen (z. B. www.demanderjustice.com oder www.litige.fr) auch dafür, eine Klageschrift oder ein gemeinsames Verfahrens-/Basisdokument auf Frage & Antwort-Basis zusammenzubauen. Eine derart hohe Strukturierbarkeit, wie sie für die Legal-Tech-Anbieter, nötig und charakteristisch ist, ist in einem Verfahren, in dem der Richter wie bisher die Entscheidungshoheit haben soll, nicht erforderlich. Legal Tech-Anbieter betreiben digitale Systeme, in denen vielfach der Computer eine rechtliche Bewertung vornehmen soll. Für ein gerichtliches Online-Verfahren reicht es demgegenüber aber für eine Beschleunigung aus, wenn der Richter nur schneller einen Überblick über den Rechtsstreit gewinnen kann und die Informationen in geordneter Form vorliegen (sh. etwa die Kategorien im Solution Exlorer des CRT oder unter www.demanderjustice.com).
Wünschenswert wäre daher m.E. eher ein optionales (formularbasiertes) erstinstanzliches Online-Verfahren für alle dafür besonders geeigneten Zivilsachen als eine Dopplung von Legal-Tech Angeboten (inner- und außerhalb der Justiz) für bestimmte handverlesene Streitgegenstände. In ausländischen Rechtsordnungen (z. B. Frankreich) wird an einem solchen, breiter einsetzbaren Verfahren, das weniger an sektorielle Legal-Tech-Angebote erinnert, schon gearbeitet!
Große Bedeutung der Schriftlichkeit im Verfahrensablauf
Das „Beschleunigte Online-Verfahren“ soll im Regelfall ohne mündliche Verhandlung ablaufen (Diskussionspapier, S. 93). Diese Vorgabe, die das Verfahren gleichwohl nicht auf ein schriftliches Verfahren beschränkt, wirft die Frage auf, ob ein Online-Verfahren im Bereich niedriger Streitwerte nicht, im Sinne der Bürgernähe, verstärkt auf Videokonferenzen/virtuelle Verhandlungen setzen sollte, um keine zu großen Kommunikationsbarrieren für anwaltlich nicht vertretene Parteien aufzubauen.
Fazit: Legal Tech in der Justiz?
Mit dem Vorschlag eines „Beschleunigten Online-Verfahrens“ beschreitet die Arbeitsgruppe neues Terrain und beweist großen Mut zur Innovation in Form einer zeitgemäßen, niederschwelligen (freiwilligen) Alternative zum herkömmlichen Zivilprozess und auch zum wenig konturierten Bagatellverfahren des § 495a ZPO.
Zumindest leise Bedenken könnten (natürlich nicht abschließend!) mit folgenden Fragen – wenngleich nur an einzelnen Details des an sich begrüßenswerten Vorschlags – angemeldet werden:
Ist es für die staatliche Justiz wirklich wünschenswert, ein Verfahren nach Machart von Legal Tech-Dienstleistern für ganz bestimmte Ausschnitte aus dem großen Feld der zivilrechtlichen Rechtsstreitigkeiten anzubieten?
Werden Externe (z. B. Legal-Tech-Anbieter) bereit sein, der Justiz ihre Abfrage- und Eingabesysteme zur Verfügung zu stellen und eignen sich solche Systeme überhaupt für die staatliche Justiz?
Sollte der obligatorische Versuch einer einvernehmlichen Streitbeilegung (anders als das Diskussionspapier auf S. 89) nicht doch in ein solches Online-Verfahren eingebaut werden? Dieser Versuch muss, wenn man ihn nur als (ggf. digital zu leistenden) Schlichtungsvorschlag oder richterliche „facilitation“ versteht, nicht unbedingt zeitaufwändig sein.
Müsste ein bürgernahes Online-Verfahren nicht eher auf eine Kopie der mündlichen Verhandlung als auf rein schriftliche/digitale Kommunikation setzen? Schließlich spielt fehlende Kommunikationsgewandtheit einzelner nicht anwaltlich vertretener Parteien ggf. eine Rolle für das Absehen von gerichtlicher Anspruchsverfolgung.
Eigene (geringfügig abweichende) Ideen zu einem digitalen Bagatellverfahren finden sich hier:
D. Vorschläge zum digitalen Verfahrensablauf
Innovationspotenzial hat auch eine ganze Reihe weiterer Vorschläge zum Ablauf des digitalen zivilprozessualen Verfahrens, die hier nur kurz erwähnt werden sollen:
Möglichkeit der Videoverhandlung
Die Arbeitsgruppe macht einen umfassenden Vorschlag zur gerade in der Corona-Pandemie viel diskutierten „virtuellen Verhandlung“.
Literatur: Berlit, jM 2020, 310; Greger, MDR 2020, 957; Fries, GVRZ 2020, 27; Mantz/Spoenle, MDR 2020, 637; Schmidt/Saam, DRiZ 2020, 216; sehr kritisch Reuß, JZ 2020, 1135, 1141 und Paschke, Digitale Gerichtsöffentlichkeit, 2018, S. 280 f.
Über § 128a ZPO hinausgehend, befürwortet die Arbeitsgruppe
„die Schaffung einer gesetzlichen Möglichkeit für eine „virtuelle Verhandlung“ unter Aufgabe des Erfordernisses eines Sitzungssaals. Die Arbeitsgruppe sieht dabei einen Anwendungsbereich nicht nur für die Güte- und die mündliche Verhandlung. Vielmehr würde eine „virtuelle Verhandlung“ auch dazu genutzt werden können, die von der Arbeitsgruppe vorgeschlagenen „Strukturierungstermine“ und das Beschleunigte Online-Verfahren zu erleichtern.“
Nach Vorstellung der Arbeitsgruppe soll es demnach auch dem Gericht ermöglicht werden, die Verhandlung per Videokonferenz ohne Präsenz im Sitzungssaal durchzuführen. Die Gerichtsöffentlichkeit soll (nur! – keine Mitverfolgung der Verhandlung über Internetportal!) durch Übertragung der Videoverhandlung in einen vom Gericht bestimmten Raum hergestellt werden.
Für internationale Fälle soll die virtuelle Verhandlung, durch Änderung der §§ 1100 I und 1101 II ZPO der Regelfall werden.
Protokollierung nurmehr per schriftlichem Wortprotokoll
Die Arbeitsgruppe schlägt vor, mittelfristig (ab 2026) nurmehr Wortprotokolle von Beweisaufnahmen, die mittels Spracherkennungssoftware auf Basis von Ton-/Videoaufzeichnungen (§ 160a ZPO soll hierfür um die Videoaufzeichnungen ergänzt werden) zuzulassen:
„Die Anfertigung des Wortprotokolls der Beweisaufnahme soll unter Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten, insbesondere der computergestützten Spracherkennung, erfolgen. Zur vorläufigen Aufzeichnung des Protokolls soll daher neben der Ton- auch die Videoaufnahme zugelassen werden.“
Elektronisches Titelregister für die Zwangsvollstreckung
Sehr interessant und zugleich praxisrelevant sind die Überlegungen der Arbeitsgruppe zum Elektronisches Titelregister für die Zwangsvollstreckung. Die Arbeitsgruppe schlägt für das Zwangsvollstreckungsverfahren den „Abschied von der vollstreckbaren Ausfertigung in Papierform“ vor:
„Die bereits vom Gesetzgeber angelegten Möglichkeiten des Elektronischen Urkundenarchivs sollten für das Zwangsvollstreckungsverfahren dadurch nutzbar gemacht werden, dass es ein „Titelregister“ auch für gerichtliche Vollstreckungstitel bildet. Es könnte den Vollstreckungsorganen den Zugang vermitteln jedenfalls zu einer (vollstreckbaren) Ausfertigung des jeweils zu vollstreckenden Titels. Es bietet ein zentrales, in technischer Hinsicht sicheres und verlässliches System zur Speicherung und zum Abruf von elektronischen Dokumenten. Voraussetzung ist freilich die Bereitschaft der BNotK, an einer derartigen Erweiterung mitzuwirken.
Die Arbeitsgruppe sieht zwar das grundsätzliche Bedürfnis der Öffentlichkeit an einer digitalen Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen (Diskussionspapier, S. 70), sieht aber momentan noch nicht die Möglichkeit zu einer Veröffentlichung aller Entscheidungen:
„Ermöglicht der technische Fortschritt eine zuverlässige Anonymisierung, insbesondere mittels des Einsatzes Künstlicher Intelligenz, können Entscheidungen unmittelbar aus der E-Akte zur Veröffentlichung bereitgestellt werden, ohne dass es eines zusätzlichen Aufwands des Gerichts bedarf. Dies ermöglicht es, Interessierten Zugriff auf sämtliche Entscheidungen der Gerichte zu geben, auch ohne dass ein berechtigtes Interesse dargetan wird. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass die Entscheidungen in eine justizeigene Datenbank eingespeist werden, auf die sodann ohne Kosten von Dritten zugegriffen werden kann.“
Die Vielzahl an Vorschlägen, die Durchdringungstiefe der einzelnen Themenkomplexe durch die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ sowie die Innovationskraft der Vorschläge sind beeindruckend.
Klar ist aber auch, dass einige schon jetzt streitige Regelungsmöglichkeiten (z. B. virtuelle Verhandlung, Strukturierungspflicht) erst auf breiterer Basis diskutiert werden müssen. Zudem ist fraglich, ob das staatliche Gerichtssystem vollständig in der Lage sein wird, ähnlich komplexe Aufgaben zu stemmen, wie sie derzeit oft private IT- und Rechtsdienstleister übernehmen (z. B. im Rahmen des Beschleunigten Online-Verfahrens oder beim geplanten Einsatz von KI im Rahmen der Kostenfestsetzung).
Werden aber auch nur einige der Ideen in die Praxis umgesetzt, so ist der Zivilprozess wohl künftig zwar nicht als völlig autonom fahrendes, neuartiges Fahrzeug, aber auch nicht mehr als Postkutsche (so aber noch Greger, NZV 2016, 1 ff.) auf der digitalen Autobahn unterwegs.