Das Diskussionspapier zur Digitalisierung des Zivilprozesses (wir berichteten auf dieser Seite) wurde nun, nach dem Zivilrichtertag am 2. Februar 2021, einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Zu einer Mitwirkung an den Diskussionen der Online-Tagung „Modernisierung des Zivilprozesses“ an der HU Berlin (Veranstalter: Prof. Dr. Giesela Rühl, LL.M. und Prof. Dr. Reinhard Singer) waren vor allem auch Rechtsanwaltschaft und Wissenschaft aufgerufen.
Es waren vor allem die unterschiedlichen Blickwinkel, die die Teilnahme an der Tagung besonders fruchtbar gemacht haben.
So wurden zu den Themen „Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens„, „Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens„, „Virtuelle Verhandlung und Protokollierung“ und „Elektronische Dateien als Beweismittel“ jeweils Punkte vorgetragen, die eine weitere Befassung verdienen.
Diese (nicht abschließenden Denkanstöße und Fragen) sollen an dieser Stelle kurz skizziert werden.
Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens
Die im Diskussionspapier angedachte Einführung eines beschleunigten Online-Verfahrens wurde von allen Referentinnen und Referenten grundsätzlich positiv bewertet. Als Fazit aus den Diskussionen lässt sich wohl der Satz „Man sollte es auf jeden Fall versuchen!“ mitnehmen.
Als noch nicht ausdiskutiert können aber folgende Punkte gelten:
- Anwendungsbereich des Verfahrens zu eng?
Es wurde die Frage aufgeworfen, ob das beschleunigte Online-Verfahren, das von der Arbeitsgruppe nur für Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmen (mit Bindung der Unternehmer) vorgesehen ist, nicht für alle Streitgegenstände optional angeboten werden sollte. Schließlich vermeide eine solche Erweiterung des Anwendungsbereichs eine gegebenenfalls umständliche Prüfung desselben. - Stärkere Einbeziehung der einvernehmlichen Streitbeilegung erforderlich?
Angesicht der Erfahrungen aus anderen Ländern (v.a. British Columbia/Kanada mit dem Civil Resolution Tribunal) wurde zudem gefordert, Schnittstellen des beschleunigten Online-Verfahrens zur einvernehmlichen Streitbeilegung schon in einem ersten Schritt mit zu denken und ggf. auch „teilautomatisierte Schlichtungsangebote mit einzubeziehen“. - Gestaltung des Verfahrens noch zu wenig bürgerorientiert?
Die Arbeitsgruppe hatte in ihrem Diskussionspapier das Verfahren hauptsächlich für Massenstreitigkeiten konzipiert, die sich unter Zuhilfenahme digitaler Technik unkompliziert beilegen lassen. In den Diskussionen trat nun aber die Frage in den Mittelpunkt, ob das beschleunigte Online-Verfahren sich nicht auch als genereller Mechanismus einer bürgernahen Streitbeilegung eignet und dem Richter dafür ein weiterreichender Ermessensspielraum zur Verfahrensgestaltung einzuräumen ist als vom Diskussionspapier vorgesehen. Eine solche Ausrichtung des Verfahrens an Überlegungen der Bürgernähe kommt freilich nur dann in Betracht, wenn „Bürgernähe“ nicht nur als Schlagwort, sondern als ausreichend definierter Systembegriff dient und die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger vorab empirisch erfasst werden.
Von Seiten der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ wurde bereits angekündigt, nach Wegen suchen zu wollen, um die Bürgerinnen und Bürger in den Diskussionsprozess mit einzubeziehen.
Strukturierung des Parteivortrags und des Verfahrens
Ein heißes Eisen scheint in den Diskussionen um die Modernisierung des Zivilprozesses die Frage nach der Erforderlichkeit und Ausgestaltung einer Strukturierung des Parteivortrags zu werden. Die sehr praxisorientiert und auch auf Basis konkreter Beispiele für ein elektronisches Basisdokument geführten Diskussionen dazu haben gezeigt, dass eine Einführung von Anforderungen an die Gestaltung von Schriftsätzen alles andere als unumstritten ist. Offen sind vor allem noch folgende Fragen:
- Strukturierungskriterium zu eng gewählt?
Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ schlägt die Ordnung des Tatsachenvortrags nach dem Merkmal der „Chronologie“ vor. Dabei handelt es sich um eine rein zeitliche Ordnung des Tatsachenmaterials. Gewiss ist damit schon etwas gewonnen. Für die Ordnung von Rechtsausführungen (die von der Arbeitsgruppe auch nicht primär angestrebt ist) eignet sich das Kriterium der „zeitlichen Abfolge“ freilich nicht. Auch ist noch offen, wie die Ordnung im vorgeschlagenen Basisdokument erfolgen soll, wenn der zeitliche Ablauf belanglos, das Tatsachenmaterial zu einem zeitlich einheitlichen Vorgang aber umfangreich ist. Daher müsste das Kriterium der „Chronologie des Lebenssachverhalts“ unbedingt noch ausgeformt werden. Andere Kriterien wie die der „zentralen Behauptungen“ und der „gewählten Anspruchsnormen“ oder aber auch die „rein formale Ordnungsvorgabe als Aufgabe der Parteien“ (Verzicht auf ein Strukturierungskriterium) sollten ebenfalls Eingang in die Diskussionen finden. - Verfahren der Strukturierung mit dem elektronischen Basisdokument als Nachteil für den Beklagten?
Vom Strukturierungskriterium ist das Vorgehen bei der Strukturierung (hier: Strukturierungsverfahren) zu unterscheiden. Die Arbeitsgruppe hat sich im Diskussionspapier für die Strukturierung in einem gemeinsamen Dokument, dem sog. Basisdokument, entschieden, an dem Kläger und Beklagter mitarbeiten. Freilich muss die Initiative zur Strukturierung entweder vom Gericht oder einer der Parteien ausgehen. Das Basisdokument wird vom Kläger begonnen, der dort seinen Schriftsatz eingibt. Im Chatbereich der Online-Tagung wurde nun intensiv darüber diskutiert, ob das nicht eine zu große Benachteiligung der ohnehin schon einer Klage ausgesetzten Beklagtenpartei darstelle. Vorgeschlagen wurde als Lösung dieses Problems eine erst nach Austausch von Klage und Klageerwiderung durch das Gericht vorzunehmende Strukturierung. Denkbar ist freilich auch, dem Beklagten zu ermöglichen, von der klägerischen Struktur abzuweichen. Wie dem auch sei: Vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Waffengleichheit der Parteien wird diese Frage der genauen Ausgestaltung eines gemeinsamen Verfahrensdokuments noch intensiv zu diskutieren sein! - Mehrwert gerade der digitalen Strukturierung von Schriftsätzen?
Ebenfalls im Chatbereich wurde schließlich auch über den spezifischen Mehrwert einer digitalen Strukturierung von Schriftsätzen diskutiert. Sieht man diesen nicht bereits in der Verwendung eines digitalen Kollaborationstools wie des Basisdokuments (ähnliche Tools sind mit z. B. Methodigy und Normfall-Manager schon auf dem Markt) und der damit verbundenen Verfahrensumstellung (frühzeitiges Tätigwerden des Richters), müsste über Möglichkeiten nachgedacht werden, welchen Beitrag eine Strukturierung über die Erleichterung der richterlichen Tätigkeit hinaus im digitalen Zeitalter haben könnte. Denkbar sind in diesem Zusammenhang Tools zur Hilfe bei der Inhaltserschließung von Schriftsätzen (z. B. durch automatische Generierung von Zeitstrahlen, Verschlagwortung, Verlinkung mit juristischen Datenbanken usw.).
Virtuelle Verhandlung und Protokollierung
Als deutlich weniger umstritten wurden die Vorschläge der Arbeitsgruppe aufgenommen, die die Einführung einer rein virtuellen Verhandlung und die digitale Protokollierung betreffen. Insbesondere das von der Arbeitsgruppe vorgeschlagene Wortprotokoll wurde, besonders im Chat, vielfach befürwortet.
Kritische Fragen wurden aber in Bezug auf die rein virtuelle Verhandlung aufgeworfen. Sie lassen sich unter zwei Oberpunkten bündeln:
- Geht der Vorschlag in Bezug auf die Herstellung der Gerichtsöffentlichkeit weit genug?
Die Arbeitsgruppe will „die Videoverhandlung in einen vom Gericht bestimmten Raum live übertragen, an dem jedermann in Bild und Ton die Sitzung mitverfolgen kann“. Dazu wurde in den Diskussionen angemerkt, es wirke geradezu analog, wenn in der virtuellen Verhandlung weder die Parteien noch das Gericht am Gerichtsort präsent sein müssen, jedoch aber die interessierte Öffentlichkeit. Es wurde dafür plädiert, diesbezüglich auch digitale Lösungen zu bedenken. - Passt eine rein digitale Verhandlung (außerhalb des Gerichts) zum Zivilprozess?
In eine andere Kerbe schlägt die vorgetragene Kritik, eine Verhandlung im digitalen Raum unterscheide sich maßgeblich von einer Verhandlung im Gerichtssaal. So sei es atmosphärisch etwas anderes, im Gerichtssaal oder per Videokonferenz zu verhandeln. „Psychologische Hemmschwellen“ seien wichtig für das „Selbstverständnis der Justiz“. Zudem reiche das für eine rein virtuelle Verhandlung erforderliche Einverständnis der Parteien nicht zur Vermeidung von „forum shopping“ etwa zu Gunsten eines besonders digitalaffinen Gerichts.
Elektronische Dateien als Beweismittel
Die Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“ hat zur Frage der elektronischen Dateien als Beweismittel keine Vorschläge de lege ferenda unterbreitet. Vielmehr soll hierfür die weitere technische Entwicklung abgewartet werden. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Tagung v. a. (nicht minder interessante) weiterführende technische Fragen aufgeworfen hat. Problematisch ist in Zusammenhang mit elektronischen Dateien (z. B. WhatsApp-Nachrichten) derzeit, dass diese derzeit vielfach nur als Screenshots vorlegt/in Augenschein genommen werden können. Die beiden folgenden, im Rahmen der Tagung diskutierten Fragen, betreffen nun eben diese technische Problematik:
- Brauchen wir ein sog. Prozessmanagementportal zur Verwaltung/Sammlung elektronischer Dateien?
Über ein derartiges Portal könnten elektronische Dateien im Original (!) gesammelt werden und v.a. bei Gericht in brauchbarer Form archiviert werden.
Darüber hinaus könnte ein solches Portal alle Ansätze aus dem Diskussionspapier insofern bündeln als es die zentrale Prozessplattform im digitalen Zeitalter darstellen könnte. Basieren könnte eine solche Plattform ggf. auf der derzeit in Programmierung befindlichen Akteneinsichtsplattform für die E-Akte, die ggf. mit einer Upload-Funktion versehen werden könnte. Auf einer solchen Plattform könnten also nicht nur (elektronische) Beweismittel gesammelt werden. Sie könnte vielmehr auch den Zugriff auf das Basisdokument bieten, eine Plattform für die virtuelle Verhandlung darstellen, usw. Ob ein solch großer Wurf gelingen kann, steht freilich in den Sternen. - Ist ein Zugriff auf elektronische Dateien aus anderen Verfahren nötig/sinnvoll?
Grundsätzlich wäre es technisch denkbar, das Prozessmanagement so zu gestalten, dass nach Beweismitteln gesucht werden kann. In einem Prozessmanagementportal müsste dafür nicht unbedingt ein Zugriff auf die Akte anderer Verfahren erfolgen, sondern nur auf einzelne Dateien, die als Beweismittel verwendet wurden. Ökonomisch wäre es freilich sinnvoll, wenn z. B. nicht in jedem parallelen Verfahren ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müsste, sondern ein Gutachten aus einem anderen Verfahren auf einfache Weise „beigezogen werden könnte“. Nicht gänzlich ausdiskutiert wurde in diesem Zusammenhang aber, wie sich eine derartige Möglichkeit in Einklang mit dem Beibringungsgrundsatz bringen ließe.
Fazit
Mit der Online-Konferenz „Modernisierung des Zivilprozesses“ am 26. Februar 2021 an der HU Berlin gingen die Diskussionen um das Papier der Arbeitsgruppe der OLG-Präsidenten in eine neue Runde. Es wurden nun auch die Wissenschaft und die Anwaltschaft in den Prozess einbezogen. Die vielen aufgeworfenen Fragen zeigen, dass dieses Unterfangen der Tagungsorganisatoren ein voller Erfolg war.
Der Einbeziehung weiterer Akteure der Streitbeilegung (Schiedsgerichtsbarkeit und Verbraucherschlichtungsstellen) widmet sich bereits in Kürze eine an der Universität Passau (Prof. Dr. Thomas Riehm) für den 19.03.2021 geplante Tagung.
Ertrag verspricht darüber hinaus, wie ebenfalls im Rahmen der Berliner Tagung anklang, eine Einbeziehung der eigentlich Betroffenen, der Bürgerinnen und Bürger, sowie ein stärkeres Einbringen rechtsvergleichender Erfahrungen zur Digitalisierung des Zivilprozesses aus anderen Ländern.
Es bleibt also weiterhin spannend!